Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
icon

 

Seid gegrüßt, meine Weblog-Gäste!
Heute möchte ich Euch gerne wieder einmal in die Welt der Bücher entführen, wenn Ihr mögt.

Wie Ihr ja bestimmt schon wisst, liebe ich das Lesen und lesend reise ich auch immer wieder gern in die Vergangenheit, um den Personen, die vor mir gelebt, geliebt und gelitten haben, zu "begegnen". Des öfteren stoße ich dabei auf Menschen, die bei mir das Gefühl hinterlassen, dass sie mit ihrem damaligem Wirken wegbereitend für unser heutiges Bewusstsein waren. Ein Bewusstsein, welches wir als ganz selbstverständlich zu nutzen gewohnt sind und welches wir des öfteren auch gerne nur uns selber und unserer modernen Zeit zuschreiben. Ohne einen Blick hinter die jeweils lange Entwicklungsgeschichte einer jeden Bewußtseinsebene zu werfen, die immer auch auf vielen menschlichen Tragödien beruht. Zu diesen "Wegbereitern" zähle ich Friedrich Nietzsche, der im Oktober 1844 geboren wurde und im August 1900 nach unendlichem Ringen um die Wahrheit hinter der Moral verstarb.

Damals, als das enge Korsett der Moral in Deutschland fast das gesamte Leben von Geburt an bestimmte, war es sicherlich ein mehr wie mutiger Schritt, eben diese Moral zum Kritikpunkt zu machen. Allerdings könnte man ihn wohl auch als den verzweifelten Schritt eines in Seelennot geratenen Menschen bezeichnen. Eine Seelennot, die Nietzsche selber höchstwahrscheinlich gar nicht in ihrem eigentlichen Sinn erkennen durfte und konnte - die er aber zu spüren und über seine Philosophie aufzugreifen in der Lage war.

Es ist gut vorstellbar, dass das sensible und kreative Kind - welches Nietzsche gewesen sein soll - durch die strenge preußische Erziehung (deren Hauptziel die Abtötung jeglichen Gefühls zugunsten des Gehorsam darstellt) großen Schaden nahm. Aber auch sein Vater, der 1848 gemütskrank wurde und ein Jahr darauf starb, hat gewiss zu einer Furcht vor dem eigenen Seelenleben beigetragen. Dergestalt in "Ketten gelegt", muss der innere Seelenpanzer sehr dick gewesen sein, dennoch gab Nietzsche nie auf und scheint bis zu seinem Ende in einem gewissen Sinne um die Befreiung seiner Seele gerungen zu haben. Um seine, aber auch um die der Menschheit.

Wie sehr ihm sein innerer Seelenzustand zusetzte - der sich auch in vielen schweren körperlichen Krankheiten auszudrücken schien - ist in seinen Briefen und Aufzeichnungen nachzulesen. Um so mehr bewundere ich seinen Mut und Willen, sich nicht von diesen Zuständen besiegen zu lassen und immer wieder denkend und sinnend dagegen anzuschreiben.
Notizzettel Nietzsches
Ganz besonders beeindruckt hat mich seine 1881 erschienene "Morgenröte", in der er intensiv versucht, moralische Vorurteile kenntlich zu machen und von wirklichem Erleben zu trennen. In einer Zeit, in der beides wohl fast noch ungefiltert als zum Menschen und Leben gehörig gesehen wurde, muss das ein ausgesprochen anstrengender, mutiger, aber auch isolierender Erkenntnisakt gewesen sein. Dennoch kann ich als "Nachgeborene" - die Nietzsches Philosophie nur durch einen über 100-jährigen Zeittunnel nachträglich zu betrachten vermag - trotz aller Bewunderung den Umstand nicht außer Acht lassen, dass eben diese Philosophie auch auf eine Gesinnung wie die Hitlers unterstützend wirkte. Für Nietzsche selber hat diese Verknüpfung niemals stattgefunden, denn sie geschah erst ca. 40 Jahre nach seinem Tod. Für mich aber ist sie relevant, denn wenn eine Philosophie in diesem Sinne eingesetzt werden kann, haftet ihr etwas Fragwürdiges an. Doch dieses Thema ist inhaltsschwer genug, um mindestens noch einmal einen eigenen Tagebucheintrag zu füllen. Letztendlich überwiegt für mich die Ehrfurcht vor dem Bemühen Nietzsches, das bis dahin Unsagbare - auch für uns Nachgeborene - in Worte zu fassen.

Nachfolgend habe ich Euch deshalb einige Stellen aus Nietzsches "Morgenröte" zusammengestellt, die mich besonders faszinieren. Vor allem das Bildnis des Grabenden, als jemanden, der in seinen eigenen Seelenlandschaften unterwegs ist, um aus ihnen eine Erkenntnis hervorzufördern, hat etwas Bestechendes für mich.

Ich wünsche Euch eine spannende Reise in die Seelen- und Gedankenwelt Nietzsches!
Seid herzlich gegrüßt

von

Sarah-Lee


~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~


Friedrich Nietzsche - Morgenröte (1881)

Friedrich Nietzsche

Es gibt so viele Morgenröten,
die noch nicht geleuchtet haben.


In diesem Buche findet man einen »Unterirdischen» an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, daß man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat -, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne daß die Not sich allzusehr verriete, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint es nicht, daß irgendein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt? Daß er vielleicht seine eigne lange Finsternis haben will, sein
Unverständliches, Verborgenes, Rätselhaftes, weil er weiß, was er auch haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Morgenröte?...Gewiß, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will, er wird es euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische, wenn er erst wieder »Mensch geworden« ist. Man verlernt gründlich das Schweigen, wenn man so lange, wie er, Maulwurf war, allein war.

In der Tat, meine geduldigen Freunde, ich will es euch sagen, was ich da unten wollte, hier in dieser späten Vorrede, welche leicht hätte ein Nachruf, eine Leichenrede werden können: denn ich bin zurück gekommen und - ich bin davongekommen. Glaubt ja nicht, daß ich euch zu dem gleichen Wagnisse auffordern werde! Oder auch nur zur gleichen Einsamkeit! Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet niemandem: das bringen die »eignen Wege« mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muß er allein fertig werden. Er hat eben seinen Weg für sich - und, wie billig, seine Bitterkeit, seinen gelegentlichen Verdruß an diesem »für sich«: wozu es zum Beispiel gehört, zu wissen, dass selbst seine Freunde nicht erraten können, wo er ist, wohin er geht, daß sie sich bisweilen fragen werden »wie? geht er überhaupt? hat er noch - einen Weg?«

Damals unternahm ich etwas, das nicht jedermanns Sache sein dürfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, - immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben. Aber ihr versteht mich nicht?
In Gegenwart der Moral soll eben, wie angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird - gehorcht! So lang die Welt steht, war noch keine Autorität willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisieren, die Moral als Problem, als problematisch nehmen.
Ebenso hat der Mensch allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung über die Schulter gehängt.
Wir müssen die viele falsche Großartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle Dinge vor uns Anspruch haben!
Haben die wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück beigetragen? Gewiß ist, daß die Weite des Raumes zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück erst mit Hilfe der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist. Diese Art von Raumgefühl wird folglich, unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert: so wie wir von ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem als Punkt zu empfinden.
Helft, ihr Hilfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen! Es gibt kein böseres Unkraut! Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn gelegt - und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon dies, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen! - aber man hat mehr getan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des Straf-Begriffs. Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber als Strafe empfinden zu heißen, - es ist, als ob die Phantasterei von Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet hätte!
Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nötig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von »Weltgeschichte«, von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet.
Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen, des Anmaßenden, das Zurückstellen seiner Tugenden sowohl wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleichgeben, Sich-einordnen, Sich-verringern, - dies alles als die gesellschaftliche Moral ist im groben überall bis in die tiefste Tierwelt hinab zu finden, - und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein. ........ So verbirgt sich der einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes »Mensch« oder unter der Gesellschaft.
Die Institution der Ehe hält hartnäckig den Glauben aufrecht, daß die Liebe, obschon eine Leidenschaft, doch als solche der Dauer fähig sei, ja daß die dauerhafte lebenslängliche Liebe als Regel aufgestellt werden könne. Durch diese Zähigkeit eines
edlen Glaubens, trotzdem daß derselbe sehr oft und fast in der Regel widerlegt wird und somit eine pia fraus ist, hat sie der Liebe einen höheren Adel gegeben.
Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augenblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelüst des Zornes die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plötzlichen und einmaligen Worte
die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und Lüge durch eine solche Umschaffung in die Welt gekommen: jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer übermenschlicher, den Menschen hebender Begriff.
..... indem man ebenso grundsätzlich den wahren natürlichen Folgen einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fliehen, sondern das vermeintliche Mißfallen der Götter an der Versäumnis eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hält dies zuletzt, nur insofern es Symbol sein kann, noch für wertvoll.
Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, daß die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und daß sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen; im späteren Leben, wo sie sich voll von diesen angelernten und wohlgeübten Affekten finden, halten sie ein nachträgliches Warum, eine Art Begründung, daß jene Neigungen und Abneigungen berechtigt sind, für eine Sache des Anstandes. Diese »Begründungen« aber haben weder mit der Herkunft, noch dem Grade des Gefühls bei ihnen etwas zu tun: man findet sich eben nur mit der Regel ab, daß man als vernünftiges Wesen Gründe für sein Für und Wider haben müsse, und zwar angebbare und annehmbare Gründe.
Derselbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefühl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der Demut, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich ans Herz gelegt und gut geheißen hat. Das heißt: es hängt sich ihm entweder ein gutes oder ein böses Gewissen an! An sich hat er, wie jeder Trieb, weder dies noch überhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust.
Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmacke - einem boshaften Geschmacke vielleicht? -, nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die »Eile hat«, zur Verzweiflung gebracht wird.

Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem eins heischt, beiseite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden -, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht langsam erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nötiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der »Arbeit«, will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich »fertig werden« will, auch mit jedem alten und neuen Buche: - sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken mit offengelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen... Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommne Leser und Philologen: lernt mich gut lesen!
Susi meinte am 5. Apr, 11:25:
ich bin begeistert
von dieser wunderbar aufbereiteten darstellung
danke sarah! 
Sarah-Lee antwortete am 7. Apr, 17:59:
Schön von Dir zu hören!
Hallo Susi,

Du meine einzige Leserin auf Twoday *lach*!

Schön, wieder von Dir zu hören und noch schöner, dass Dir mein Beitrag gefallen hat!!

Ich mach' mich jetzt mal auf den Weg in Deine Weblogs und schmökere mal wieder ein wenig herum.

Sei lieb gegrüßt

von

Sarah-Lee 
 

twoday.net AGB

xml version of this page

powered by Antville powered by Helma